Eine Rezeption
germanischen Rechts in Italien? Römisch-wissenschaftliches Recht und
vulgarrechtliche Tradition in den italienischen Städten des 12. und
13. Jahrhunderts.
[Bad Homburg
26-28.02.1998, Die Rezeption des gelehrten Reschts im Regnum
Teutonicum , «Zeitschrift für Historische
Forschung», Beihefte, im Druck]
1. Als Francesco Schupfer 1866 einen Ruf an die Universität Padua erhielt, war er ein junger Professor, der nach seinem Studium in Deutschland bereits einige Jahre in Innsbruck gelehrt hatte. Schupfer selbst war 1833 ausgerechnet in Padua geboren und sollte jetzt in der alten Universitätsstadt des gerade in Italien integrierten Veneto die Grundlagen für den neuen Einheitsstaat schaffen (1) .
Der Rechtsgelehrte, der nach der Gründung des italienischen Einheitsstaates in wenigen Jahren zu einem bedeutenden Wissenschaftler avancierte, publizierte zahlreiche Studien zu verschiedenen Themenbereichen, um sich letztlich gegen Ende des Jahrhunderts zuerst darauf zu konzentrieren, das umfangreiche Manuale di storia del diritto italiano (2) zu erstellen. Danach beschäftigte er sich mit einer monumentalen Forschungsarbeit über das Diritto privato dei popoli germanici (3) , welche er in vier, später in fünf Bänden herausgab. Beide Bücher hatten großen Erfolg; Grundlage bildeten weitreichende bibliographische Informationen und eine hervorragende Kenntnis der Quellen: Im Manuale zeichnete Schupfer mit großer Klarheit die Geschichte der mittelalterlichen Rechtsquellen nach, indem er vor allem die Veränderungen der Gesetzgebung und der Rechtsdogmatik herausarbeitete. Im Diritto privato dei popoli germanici bot er eine historische Abhandlung der Privatrechtsinstitute, unterteilt in vier (später fünf) große Sektionen, die er an die Einteilung der europäischen Kodifikationen anlehnte: Personen und juristische Personen, Familie, Sachenrecht, Schuldrecht, Erbrecht.
In der Anlage der Handbücher Schupfers kommt eine Konzeption der Rechtsgeschichte zum Ausdruck, die, in der deutschen Historischen Schule entwickelt, die Arbeiten der Historiker und Juristen des 20. Jahrhunderts zutiefst beeinflußte, bis Francesco Calasso eine Wende einleitete. Drei essentielle Aspekte dieser Konzeption sind hier von Bedeutung:
Erstens die zeitlichen Grenzen: Während der Überblick über die Quellen des italienischen Rechts vom Ende des Imperium Romanum bis zur Neuzeit reicht, konzentriert sich das Diritto privato dei popoli germanici hauptsächlich auf das frühe Mittelalter, gleichsam so, als ob die eigentlich kreative Phase des italienischen Rechts mit der Wiedergeburt der romanistischen Studien zu Ende gegangen sei.
Zweitens die Auswahl der Quellen: Über die gesetzgeberischen Quellen hinausgehend, beschäftigte sich Schupfer in seinem Manuale auch mit den bekannteren Werken der Rechtsdogmatik, mit den italienischen Universitäten, mit den Glossatoren und Kommentatoren der Kanonistik und des Zivilrechts. Aber in der Darstellung, die dem Privatrecht gewidmet ist, zitiert er die Werke über die Dogmatik nur in verschwindend geringem Umfang. Die Rechtsinstitute werden hingegen sowohl auf der Grundlage der Gesetzgebung der germanischen Königreiche, insbesondere der Langobarden und der Karolinger, als auch der urkundlichen Überlieferung rekonstruiert. Dies scheint eine etwas befremdliche Beschränkung für jemanden, der auf mehr als fünfhundert Seiten den Wechsel der Schulen, Juristen und ihrer Werke vorstellt, die in seinem Manuale sogar als die bedeutendsten Quellen des italienischen Rechts des Mittelalters hervorragen. Aber diese Beschränkung wird verständlich, wenn man sich nur den Titel in Erinnerung ruft, den Schupfer seiner Studie über die zivilrechtlichen Institute zugedacht hat: Il diritto privato dei popoli germanici.
Und als drittes charakteristisches Element der rechtshistorischen Vorstellungen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts kommt nun folgendes hinzu: Das im Mittelalter geltende und praktizierte Privatrecht leitete sich in erster Linie vom germanischen Recht ab, auch wenn die Haftung des jeweiligen Rechtssystems an der Person, die seit der Zeit des Theoderich das Zusammenleben zwischen den Romani und den germanischen Eroberern regelte, auch das Überleben des römischen Rechts garantierte. Germanischer Herkunft waren jedoch alle Neuerungen, die das mittelalterliche juristische Leben von der klassischen Zeit unterschieden, von der Spaltung des Eigentums (dominium utile und dominium directum) bis zur Einführung der juristischen Person, von dem Inhaberpapier bis zum vollständigen Feudalrecht. Alles was neu und "mittelalterlich" war, war germanisch. Wenn folglich das römische Recht und die Rechtswissenschaft sehr gut in die Abhandlung über die Rechtsquellen paßten, war es beim Übergang zur Darstellung der Geschichte der Institute tatsächlich notwendig, das italienische Recht als Recht der germanischen Völker zu beschreiben. Dagegen war es überflüssig, die Rechtsdogmatik der gebildeten Juristen, die ihre Werke dem justinianischen Privatrecht gewidmet hatten, zu rekonstruieren, weil die Institute des germanischen Rechts trotzdem zu betrachten waren.
Dieser Standpunkt, der für Italien wirklich eine Rezeption des germanischen Rechts zu umreißen scheint, die mehrere Jahrhunderte vor der bekannteren Rezeption des römischen Rechts in Deutschland läge, muß sich bei Schupfer unter dem mächtigen Einfluß der reichhaltigen deutschen Literatur entwickelt haben. Schupfer war besonders von den Deutschrechtlern geformt, die im gesamten 19. Jahrhundert die Originalität des deutschen Rechts und seinen Beitrag zur Entstehung des mittelalterlichen und modernen Rechts unterstrichen hatten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß eine beeindruckende Reihe von deutschen Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts von Beseler bis Gierke die deutschrechtliche Herkunft einiger wichtiger Institute der italienischen Praxis des Mittelalters nachzuweisen versuchte. Daher mußte man nur das Eindringen des germanischen Rechts in Italien als gegeben hinnehmen und auf dieser Basis die Rekonstruktion des geltenden Privatrechtssystems des italienischen Mittelalters vornehmen.
Diese Anschauung schien so klar, daß nicht einmal das Bedürfnis bestand, sie zu verifizieren. Selbst Francesco Calasso, der eine tiefgehende Revision der rechtshistorischen Studien in Italien und im Abendland einleitete, rezipierte die Idee einer Geltung des germanischen Rechts in Italien während des Frühmittelalters. In seinem berühmten Handbuch Medio Evo del diritto widmete er ein wichtiges Kapitel dem "Eindringen des germanischen Rechts", das er vor allem an der Bekanntmachung des Edikts des Rotarius und an der nachfolgenden Herausbildung der langobardischen Gesetzgebung festmachte (4) . In seinem großen Entwurf des mittelalterlichen Rechts, den Calasso ausgehend von der Vorstellung des ius commune, also der Integration verschiedener juristischer Komplexe in ein einziges großes System, entwickelte, blieb dennoch immer noch eine Nische für das germanische Recht, das in Italien eingedrungen war: Es war ein Raum, der weniger auf Quellen beruhte als auf Rechtsinstituten, die im Kapitel über das germanische Recht in einer Breite behandelt werden, die im restlichen Buch keine Entsprechung mehr findet. Bewahrt ist deshalb die Spur einer historiographischen Zweiteilung, die es zu Beginn unseres Jahrhunderts häufiger gab: auf der einen Seite das "gelebte" Recht, das germanische, auf der anderen Seite das "gedachte" Recht, das römische (5) .
2. Es ist diese Bipolarität, die hier besonders interessiert. Calassos Buch, das weit entfernt ist von den alten Rekonstruktionen des deutschen 19. Jahrhunderts, die Schupfer inspiriert hatten, scheint eine Idee aufgenommen zu haben, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei einigen berühmten deutschen Rechtswissenschaftlern Unterstützung gefunden hatte: Es ist die Behauptung, daß einige der wichtigsten Ergebnisse der hochmittelalterlichen italienischen Rechtswissenschaft im wesentlichen römischrechtliche Rationalisierungen waren, die konstruiert wurden, um mit der Rechtsdogmatik Institute zu belegen, die aus einem germanischen Rechtsgefühl geschaffen worden waren. Vom späten 19. Jahrhundert an hatten nämlich die deutschen Germanisten begonnen, ihren Untersuchungsradius auch auf die Quellen der mittelalterlichen italienischen Dogmatik auszudehnen, also auf diejenigen Schulwerke, die als Mittel der Rezeption des römischen Rechts verstanden und deshalb bekanntlich als nationales Unglück angesehen worden waren. Solche Werke des Juristenrechts trugen nun dazu bei, das germanische Recht mit seinen ursprünglichen Instituten zu verdrängen. Es war vorher selbstverständlich gewesen, daß die ersten Forschungen über mittelalterliches deutsches Recht an den Urkunden und nicht mit der Rechtsdogmatik begonnen hatten. Man weiß zudem, daß die Sammlung der deutschen Rechtsaltertümer von Jacob Grimm aus den Zeugnissen der Praxis geschöpft und sorgfältig alle Bezüge auf das gelehrte Recht vermieden hatte.
Erst die andauernde Diskussion über den Besitz, mit der die deutschen Pandektisten im gesamten 19. Jahrhundert beschäftigt waren, (6) hatte die Germanisten angespornt, ihre Aufmerksamkeit dem gelehrten Recht zuzuwenden. Nach einem kurzen Hinweis von Delbrück (7) war es das bedeutende Buch von Andreas Heusler über die Gewere (8) , das sich entschieden mit der italienischen Dogmatik auseinandersetzte. Der erklärte Zweck bestand darin, den Einfluß der germanischen Praxis auf die Werke der mittelalterlichen Romanisten zu enthüllen. Dort wo die Theorien mittelalterlicher Juristen Unsicherheiten und empfindliche Abweichungen vom klassischen römischen Recht aufwiesen, erklärten Heusler und zuvor Delbrück, daß "die Gewere unerkannt ihre Herrschaft fortsetzte". Auf diese Weise erzwangen sie im Diskurs über die mittelalterliche Rechtswissenschaft eine Unterscheidung und Trennung, die das römische Recht nicht berücksichtigt hatte. Kurz zusammengefaßt meinten sie, daß die grundlegende germanische Ausrichtung des mittelalterlichen Rechts die damaligen Juristen angetrieben habe, Rechtsfiguren zu konstruieren, die sich wesentlich von den Prinzipien des römischen Rechts entfernten.
Der Weg, der durch die Studien über die Gewere eröffnet worden war, wurde alsbald von einem anderen großen Deutschrechtler wieder aufgenommen: Otto von Gierke. Er widmete den mittelalterlichen Korporationstheorien und der Rechtsdogmatik der Universitätsjuristen ungefähr fünfhundert Seiten im dritten Band seiner monumentalen Studie zum deutschen Genossenschaftsrecht, deren letzte drei Kapitel sich mit der Rezeption dieser Dogmatik in Deutschland befassen. Der Einfluß der Ideen des germanischen Rechts auf die mittelalterliche Dogmatik, den Gierke in diesem letzten Teil seines Buches untersuchte, hatte bis zu einem gewissen Grad die Fremdheit des gelehrten Rechtes gegenüber dem Volksrecht abgemildert: "Hier wie überall wurde die Reception nur dadurch möglich, daß nicht das römische Recht, sondern die in langer Arbeit den Zeitverhältnissen angepaßte italienische Doktrin Aufnahme fand. Die italienische Doktrin aber war, wie sich gezeigt hat, von mittelalterlich-germanischen Elementen durchsetzt. Sie konnte daher zu einer Zeit, in welcher die Anwendung des reinen römischen Rechts auf die deutschen Verhältnisse schlechthin undenkbar gewesen wäre, langsam ein- und vordringen." (9)
Die Rezeption des römischen Rechts in Deutschland war also nur deshalb möglich, weil zuvor im frühen Mittelalter das germanische Recht umgekehrt in Italien übernommen worden war. Und die Dogmatik der italienischen Legisten, die ihrerseits nach Deutschland vorzudringen strebten, enthielt nicht allein das römische Recht, das in vielen Punkten vor dem "deutschen Geist" zurückgewichen war. Nur so "wurde ... der Sieg des Fremden erleichtert." (10)
3. Die Worte von Gierke erklären deutlich sein historiographisches Projekt: Die Untersuchung über das italienische Mittelalter und über die Dogmatik der Rechtswissenschaft sollte ein Element einer viel umfassenderen Rekonstruktion bilden, in deren Zentrum, wie es für einen Deutschrechtler nur natürlich ist, das fundamentale Problem der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland stand. Um dieses Phänomen zu erklären, war es notwendig, auch viele mittelalterliche Juristen zu erforschen. In einer Analyse von außergewöhnlicher Reichhaltigkeit hat Gierke die Anzeichen des Vordringens des germanischen Rechts im abstrakten Werk der mittelalterlichen Romanisten untersucht. Diese Studie erbrachte gleichsam den Beweis für den "germanischen" Hintergrund, der viele Aspekte der romanistisch-rechtswissenschaftlichen Kultur belebte, und ermöglichte die folgende Rezeption in den deutschen Staaten. Weit von einer Beschränkung auf die Exegese der justinianischen Quellen entfernt, hatten die mittelalterlichen Legisten ein Bild des römischen Rechts entworfen, das weitläufig durch das germanische Recht verdorben war. Unfreiwillig ließen sie in ihre Werke "die Anschauungsweise des früher in seinem Kern germanischen Mittelalters, dessen Kinder auch sie waren," (11) eindringen.
Diese Anschauung von Gierke über die italienischen Juristen als "Söhne des germanischen Mittelalters" beherrschte bis vor kurzem weitgehend die italienische rechtshistorische Forschung und überlebte sogar die radikale Erneuerung, die Francesco Calasso mit seinen Studien zur Rechtsgeschichte eingeleitet hatte. Erst in den letzten Jahren wurde in Italien (zu verweisen ist hier auf das nahezu gleichzeitige Erscheinen von fünf neuen Handbüchern über die mittelalterliche Rechtsgeschichte (12) ) die mächtige und eindrucksvolle Sichtweise Calassos überwunden. Und dies bedeutete einen Anfang für den Versuch, die Idee vom Eindringen des germanischen Rechts zurückzuweisen, die Calassos Buch Medio Evo del diritto in einer auf Schupfer zurückgehenden Tradition noch nicht angetastet hatte.
Aber nicht alle Ergebnisse, die die Germanisten des 19. Jahrhunderts erarbeiteten, Gierke präzisierte und Schupfer in Italien verbreitete, erscheinen vollkommen überholt: Die Aufteilung in eine wissenschaftliche und eine praktische Ebene, in lebendige Institute und abstraktes System, ist hier und dort wieder verwendet worden und bietet sich immer noch an als unmittelbarer Schlüssel zur Interpretation der bedeutenden Neuigkeiten, die die mittelalterliche Wissenschaft in das römische System einführte. Niemand denkt mehr an die Stammeszugehörigkeit des Rechts, die nicht historische, sondern ethnische Beziehungen zwischen den Völkern und ihren Institutionen vorausgesetzt hatte. Aber die Perspektive einer in zwei Ebenen aufgeteilten juristischen Erfahrung blieb trotzdem in einigen Rekonstruktionen erhalten, die die kreative Funktion der Rechtsinstitute in der Praxis bestimmten, während die Rechtswissenschaft es nicht schaffte, sich eine andere Rolle zu geben, als das, was das Leben schuf, zu interpretieren, zu koordinieren und vernunftmäßig zu erfassen.
Die zweigeteilte Struktur der Erfahrung des mittelalterlichen Rechts ist trotz der gebührenden Größenverhältnisse und der Überwindung des "Germanismus" immer noch nicht frei von Analogien zu den Theorien, die im letzten Jahrhundert von den besten deutschen Germanisten vorgeschlagen worden sind. Zwar ist die germanische Wurzel durch einen Verweis auf die nicht stammesbezogene Herkunft frühmittelalterlicher consuetudines ersetzt worden, aber noch heute schlägt man dasselbe Schema vor, dem schon Heusler und Gierke gefolgt sind: Die wesentliche Quelle der Institute will man in der praktischen Erfahrung (zuvor germanischen Tradition) erkennen, während die gelehrten Juristen große Anstrengung darauf verwenden, Institute dogmatisch zu begründen, die sie selbst nicht entwickelt haben (13) .
4. In einigen bedeutsamen Fällen ist dieses Schema aber vollkommen unbrauchbar, denn die Rechtswissenschaft des 12. und 13. Jahrhunderts hat sich durchaus mit der Praxis auseinandergesetzt, und die Glossatoren des Zivilrechts zeigen in den Quellen oft wenig Hochachtung gegenüber den regulae consuetudinariae des frühen Mittelalters. Aus einigen bezeichnenden Episoden geht klar die Vorsicht der Wissenschaft hervor, eigene und wirkliche Alternativen zu den Instituten herzustellen, die sich in jahrhundertelanger Gesetzgebung und Praxis gefestigt hatten. Die justinianische Kodifikation ragte als ausschließliche Quelle der Legitimität hervor. Die zivilistischen Glossatoren machten es sich zur Aufgabe, argumenta zu überarbeiten, um im Gericht Lösungen zu unterstützen, die unzweifelhaft von der herrschenden Meinung abwichen. Diese Lösungen kann man in einigen Fällen mit einer gewissen Sicherheit rekonstruieren.
Einen dieser Fälle veranschaulichte vor fast zwanzig Jahren Ennio Cortese in einem kurzen, aber sehr reichhaltigen Beitrag, den er einer Theorie des Erzbischofs Moses von Ravenna zum Thema des kirchlichen Eigentums widmete (14) . Dabei ging es um eine Materie von besonderer Praxisrelevanz, wenn nicht sogar um das Ausmaß und den Wert der kirchlichen Besitzungen im 12. Jahrhundert. Die juristische Beurteilung dieser Güter und der Modalitäten ihrer Nutzung konnte weite Bereiche der mittelalterlichen Gesellschaft beeinflussen. Die Theorie von Moses kennen wir heute dank verschiedener zivilistischer Quellen. Die älteste davon ist eine quaestio, überliefert in einer Sammlung von Johannes Bassianus (15) . In dem Rechtsstreit ging es um einen Konvent, der zu einem gewissen Zeitpunkt keine Mitglieder mehr hatte. Nun stellte sich die Frage, welches Schicksal die zur Institution gehörenden Güter erfahren sollten? Im Text von Johannes Bassianus widersetzte sich Moses Gualfredus, einem legis doctor und Zeitgenossen des Irnerius. Gualfredus unterstützte die Meinung, daß der päpstliche Fiskus den vollen Nutzen an diesen Gütern haben sollte, da das Verschwinden der Mönche daraus eine res nullius gemacht habe. Für Moses hingegen waren nicht die Mönche, sondern das materielle Gebäude des Konvents Inhaber der Güter, so daß es nicht als deren derelictio gelten konnte. Und wenn eines Tages die Klostergemeinschaft wiederhergestellt würde, könnte diese ruhig wieder auf die Nutznießung der Sachen des Konvents zurückgreifen (16) .
Die Theorie des Moses ist ebenso bekannt wie die Studie von Cortese, der die Rechtsgeschichte dieses Instituts über neun Jahrhunderte nachgezeichnet hat, nämlich bis zum Erscheinen der letzten italienischen Urteile in den fünfziger Jahren (17) . Uns interessiert hier nur die Beobachtung, daß die Idee des mittelalterlichen Prälaten durchaus nicht plötzlich in der Phantasie eines Juristen erfunden wurde, der abstrakte Rechtskonstruktionen ableitete. Im Gegenteil, sie zeigt genau die Wahrnehmung, die man im hohen Mittelalter von den rechtlichen Beziehungen der Kirchen zu ihren eigenen Gütern hatte.
5. Ohne genauer auf die Problematik eingehen zu wollen, die Jahrhunderte später von den gelehrten Kirchenjuristen aufgezeigt wurde, sei nun auf die karolingischen Kapitularien verwiesen, deren Sprache tatsächlich ohne Schwierigkeiten die Idee eines Erwerbs von Gütern seitens der Kirche aufzunehmen scheint. Ein Kapitular Ludwigs des Frommen aus den Jahren 818-819 schreibt die Zuweisung von einem mansus an jede Kirche vor, um damit das Überleben des Priesters zu garantieren, der in jener Kirche den Gottesdienst zu leisten hatte (18) .
In demselben Kapitular erneuerte der Kaiser die konstantinische Konzession, daß die Kirchen Empfänger von Schenkungen pro anima sein konnten. Aber an Stelle des schwierigen konstantinischen Ausdrucks sanctissima venerabiliaque concilia (C. 1.2.1) bezog sich das Kapitular auf die sancta et venerabilia loca . Daran zeigt sich, daß es sich eher an der Sprache der epitome Juliani orientierte, die man in der karolingischen Kanzlei gerne benutzte. Der Begriff locus erwies sich so deutlich als Nutznießer der nicht wenigen Oblationen, die die kirchlichen Einrichtungen bereicherten.
Diese Fähigkeit, die man den kirchlichen Institutionen zubilligte, wird auch durch eine bedeutende terminologische Tradition belegt, die jenen Gütern, welche die Kirche bei ihrem Gründungsakt erhielt, den Begriff dos ecclesiae zuschrieb. Dies ist ein Ausdruck, der schon im 6. Jahrhundert in Gebrauch war (19) und anschließend durch die Aufnahme in einen pseudoisidorischen Abschnitt verbreitet wurde, in dem der Bischof mit dem Ehemann und die Kirche mit der Ehefrau verglichen wurden (20) . Die Ausstattung mit Gütern, die der Gründer der Kirche zu übergeben hatte, konnte sehr gut mit der dos gleichgesetzt werden, die der Vater der Braut (wie der Gründer) stellte und der Ehemann ( wie der Bischof) im Interesse der Familie nutzen konnte, ohne aber das volle Eigentumsrecht zu bekommen. Es ist interessant zu bemerken, daß das Kapitular Ludwigs des Frommen von 818-19 einige Jahre später von Lothar wieder aufgenommen wurde, wobei nun öffentlich der Ausdruck dos benutzt wurde (21) . Der notarielle Gebrauch machte aus der dos ecclesiae (22) eine wichtige Erscheinung der mittelalterlichen Dokumentation (23) .
Die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ließ sich das sonderbare frühmittelalterliche Phänomen der Zuweisung der Güter an die Kirche nicht entgehen. Und wie so oft führte sie es auf den großen Einfluß zurück, den der germanische Geist auf die Praxis und auf die kirchliche wie weltliche Gesetzgebung ausgeübt hatte. Obwohl die spätantiken Wurzeln nicht zu negieren sind, schrieb Ulrich Stutz die Idee der dos ecclesiae dem germanischen Rechtsgefühl zu, indem er die gewohnte Formel der Deutschrechtler gebrauchte: "Lateinisch ist das Wort, germanisch-mittelalterlich der Gedanke" (24) .
Einige Jahre vor Stutz hatte allerdings die deutsche Historiographie, die noch nicht stark von "germanischen" Anschauungen beeinflußt war, erkannt, daß die Zuweisung der Güter an heilige Orte schon im justinianischen Recht existierte (25) . Ein Jahrhundert später vertrat auch Riccardo Orestano dieselbe Meinung (26) ; und es ist hinzuzufügen, daß dieser Begriff tatsächlich bereits eindeutig in den epitome Juliani enthalten ist, die für die Aufnahme der Novellen Justinians im frühmittelalterlichen Westen verantwortlich waren und sicherlich einen bemerkenswerten Einfluß auf die juristische Kultur der Karolingerzeit hatten (27) . Die Rechtsquelle aus dem Osten, die jedoch im Okzident verbreitet war, insistierte auch an anderen Stellen auf die Zuschreibung der Inhaberschaft von Rechten an loca, indem sie häufig die Begriffe pertinere, pertinentia und davon abgeleitete gebrauchte. Den heiligen Stätten pertinent Immobilien (28) , servi rustici (29) , fruchtbare und brachliegende Besitzungen, baufällige Gebäude (30) und Privilegien (31) . Mit größter Unbefangenheit in der Zuschreibung von Rechten an die loca zeigte Julian sogar, um dies kurz zusammenzufassen, eine wahre Vorliebe für die pertinentia, auch wenn dieser Begriff sicherlich nicht immer im heutigen Sinne als "Zubehör" gebraucht wurde. Zweifellos findet der Begriff aber in der Kurzfassung des Julian häufiger Verwendung als in der lateinischen Übersetzung des Authenticum. Es genügt, daran zu erinnern, daß die epitome zwanzigmal den Begriff pertinet oder pertinent enthalten, während das Authenticum mit einer siebzehnfachen Anzahl von Wörtern diesen Begriff nur fünfmal wiederholt. Das bedeutet, daß Julian das Wort pertinere achtundsechzigmal häufiger gebrauchte als die offizielle Quelle, die er zusammenfaßte (32) .
Hier ist nicht der Ort, um der Vorliebe Julians für die pertinentia weiter nachzugehen. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß diese von der karolingischen Gesetzgebung geteilt worden ist. Die Sammlung des Ansegis enthält tatsächlich ein Kapitular, welches das Kapitel 7.32 des Werkes des Julian umschreibt, das gerade von de rebus ad venerabilia loca pertinentibus non alienandis handelt. Die Gesetzgebung der Kapitularien übernahm somit die Idee der Zuweisung von Gütern an venerabilia loca aus einer Quelle, die sehr wenig von germanischen Grundgedanken beeinflußt war. Statt dessen forderte Julian, der angesehenste Botschafter der justinianischen Kompilation im Okzident, in wachsendem Maße die Berufung der Praxis auf das Modell der pertinentia zu fördern.
Ein Werk der fünfziger Jahre von Piero Rasi (33) hat hinlänglich die beeindruckende Verbreitung der Klausel der pertinentia in frühmittelalterlichen Dokumenten unterstrichen. Als feste Verbindung, die kontinuierlich in den notariellen Formularen überliefert ist, betonte sie die Abhängigkeit der Güternutzung und des Gebrauchs dieser Rechte von der Beziehung des Gegenstandes zur res principalis. Dabei konnte es sich um eine Burg handeln, die mit Jurisdiktionsrechten ausgestattet war, oder um landwirtschaftliche Flächen, die mit klassischen Dienstbarkeiten (wie dem Wege- oder Wasserrecht) oder mit unkonventionellen Dienstbarkeiten (wie dem Recht des Gebrauchs von fremden oder gemeinsamen Sachen, Zollrechten, Zehnten) verbunden waren. Darunter waren aber auch die Häuser eines Dorfes zu verstehen, die über das Recht zur Nutzung der Wälder, Weiden und Gewässer verfügten, die, wie man noch in späteren Quellen des Alpengebiets finden kann, die dos des Dorfes darstellten und den Besitzern dieser Häuser, nicht den Bewohnern zustanden.
Die notarielle Klausel, die die Existenz dieser zusammen mit der Hauptsache weitergegebenen Rechte erwähnte, war so verbreitet, daß sie eine einheitliche Struktur im europäischen Recht bildete, die sowohl in den byzantinischen Zonen Italiens, im wandalischen Afrika, in den Königreichen der Merowinger, der Westgoten und der Sachsen gebräuchlich war als auch in den langobardischen und fränkischen Urkunden, im Italien der Kommunen und in vielen anderen Bereichen. Maurizio Lupoi, der diese Übereinstimmung herausgearbeitet hat, interpretierte dies als ein Indiz der substantiellen Einheit des europäischen Rechts im Frühmittelalter (34) .
6. Moses von Ravenna formulierte also tatsächlich keine eigene Theorie und agierte auch nicht in einem vorurteilslosen Umfeld. Er drückte einfach und auf natürliche Art den Inhalt einer juristischen Regel aus, die vulgarrechtlich in Europa weithin verbreitet war, die in den Alltagsgeschäften von Privatleuten gegenwärtig, bei den Notaren registriert und in ihren Formularen festgelegt war.
Diese Regel war nicht Ausdruck eines deutschrechtlichen Instituts, das die Kirche übernommen hatte, sondern sie hatte sich schon in der christlichen Literatur des 5. Jahrhunderts formiert und Raum in der justinianischen Gesetzgebung gefunden, ehe sie sich klarer als anderswo im byzantinischen Sardinien entwickelte (35) . Es handelte sich also um eine der Strukturen des europäischen Vulgarrechts, nämlich um das geltende Recht.
Wenn es stimmt, daß dieses geltende Recht keinen Rest germanischer Rechte enthält, die gegenüber dem römischen Recht zu bestehen suchten, sondern daß es sogar schon während der Spätantike klare Gestalt annahm, also zu der Zeit, als die justinianische Kompilation erarbeitet wurde, dann nimmt die Geschichte der Theorie des Moses, die Cortese umrissen hat, den Wert eines symbolhaften Wechsels an. Sie erlaubt nämlich, die Begriffe im Vergleich von vulgarrechtlicher Tradition und den von der neuen zivilistischen Schule eingeführten Neuerungen zu rekonstruieren.
Die unterschiedlichen Meinungen der Legisten, die nicht alle damit einverstanden waren, die Theorie des Moses zu verwerfen, sind von Cortese beschrieben worden. Dies gilt ebenso für das anfängliche Schweigen der Kanonisten wie für ihre endgültige Präferenz einer Zuteilung der Güter an abstrakte Subjekte statt an Gebäude. Daraus ist ein buntes Bild erwachsen; die in der Umgebung des Johannes Bassianus, des Azo und des Accursius gepflegte Ablehnung, die später die Legisten aus Orléans teilten, wurde durch die Öffnung der Glossatoren (beispielsweise des mysteriösen Aldricus, Roffredus und Guillaume de Cuhn) gegenüber der Praxis gemildert, so daß die Theorie später sogar in den Schriften des Bartolus landete. Die Wissenschaft verschloß sich also nicht vollkommen den Regeln des in der Praxis täglich angewandten Vulgarrechts, das sowohl in den justinianischen Quellen als auch in denen des kanonischen Rechts mehr als einmal eine Rechtfertigung fand. Letztlich orientierte sich die Dogmatik jedoch gänzlich anders, als Moses in seiner Theorie vorschlug. Basis war die Annahme, daß die Idee der Zuweisung von Gütern an Gebäude wohl eine Absurdität sei, und absurd klingt es heute tatsächlich in den Ohren eines jeden Juristen. Obwohl im Corpus Iuris Civilis eine Reihe zweideutiger Passagen existiert, erstrebten die angesehensten Legisten in ihren Quellen eine saubere Unterscheidung zwischen den Rechtssubjekten, also den Personen, und den Rechtsobjekten, den res. Jede Abweichung von diesem Prinzip mußte, auch wenn sie von der Praxis, von Justinian und den anerkannten kanonistischen Quellen bestätigt war, zurückgewiesen werden.
Dieser
Gegensatz scheint im Text eines anonymen lombardischen Juristen aus der
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts perfekt beschrieben zu sein. Dankenswerterweise
edierte Cortese das Fragment aus einer vatikanischen Handschrift (36) ,
das sich beiläufig mit der Kritik der summa Codicis des Azo an Moses
beschäftigte. Der Verfasser stellte die rationes zusammen, die man
für die eine oder andere Theorie anführen konnte. Er erörterte
zunächst präzise die wichtigsten Punkte der Position des Azo
in einigen Abhandlungen zum ersten Buch der Digesten oder der Institutionen,
in denen Justinian allgemeine Betrachtungen zur höheren Würde
des menschlichen Wesens gesammelt hat, nämlich als causa für
die Ordnung und für die Welt selbst: personarum causa et hominum gratia
tam iura sunt statuta quam cetera sunt creata (37) . Die Fähigkeit
einer unbelebten Sache, etwas zu besitzen, scheint schließlich gegen
den Geist der römischen Rechtsordnung zu verstoßen, ebenso gegen
die göttliche Ordnung selbst, die vorsah, daß der Mensch über
alle anderen Lebewesen und die gesamte Schöpfung herrschen sollte.
Der lombardische Jurist zitiert sogar die Verse des achten Psalms:
Quoniam
videbo caelos tuos, opera digitorum tuorum, / lunam et stellas quae tu
fundasti: / quid est homo, quod memor es eius? / aut filius hominis, quam
visitas eum? / Minuisti eum paulominus ab angelis, / gloria et honore coronasti
eum; / et constituisti eum super opera manuum tuarum. / Omnia subiecisti
sub pedibus eius, / oves et boves universas, / insuper et pecora campi,
/ volucres caeli et pisces maris, qui perambulant semitas maris. / Domine
Dominus noster, / quam admirabile est nomen tuum in universa terra! (38)
Wie kann
man, angesichts dieses Gleichklangs der Worte Gottes mit der Orientierung
des römischen Gesetzgebers, die Sachen zu den Rechtssubjekten rechnen?
Und wie kann man eine bestimmte Sentenz Ulpians hintergehen, die den Besitz
(possessio) als einen Tatbestand definiert, der sich durch einen animus
auszeichnet, (39) so daß nur ein Mensch Subjekt des Besitzes sein
kann? Unser Jurist schloß nun wie folgt: Respondeat igitur Moyses
vel alius pro eo. Und damit offenbarte er die Rigidität der Positionen
der unversöhnlichsten Legisten (40) .
Eine Reihe
angesehener Legisten von Johannes Bassianus bis Baldus bezeichnete den
Besitz der Kirchen mit abfällig gemeinten Epitheta wie durissimum
(Azo), absonum (Hugolinus), ridiculum (Baldus). Ergebnis war, daß
sich auch die Kanonisten am Ende von dieser Idee entfernten, die gerade
in der Spätantike und im frühen Mittelalter das kirchliche Eigentum
charakterisiert hatte. So wurde die rechtliche Bezeichnung der Güter,
die den Kirchen zugeordnet waren, innerhalb der Theorie der persona ficta
wieder überarbeitet. Dieser Vorschlag kam von Sinibaldus Fliscus (41)
, der eine Antwort auf die Notwendigkeit finden wollte, daß man für
jedes Recht ein menschliches Wesen oder wenigstens eine der menschlichen
Person vergleichbare Fiktion benötigte.
Die Theorie des Moses wurde beiseite gelegt, um Raum für die Konstruktion der juristischen Person zu schaffen. Ennio Cortese hat gezeigt, daß diese Theorie überlebte, auch wenn sie sich nur noch auf Domänen beschränkte, die als Allmende der gemeinsamen Nutznießung durch die Bewohner eines Dorfes dienten. (42) Den Gebäuden der Kirchen und Klöster, die in Europa über Jahrhunderte hinweg die größten Landeigentümer waren, wies niemand mehr diese Rechte zu.
7. Die Geschichte der Theorie des Moses ist daher nicht die Geschichte eines Konflikts zwischen germanischen Konzeptionen und römischem Recht. Es ist vielmehr die Geschichte der umstrittenen Bestätigung eines gänzlich neuen Prinzips, das konträr zur Praxis stand und nicht eindeutig in der justinianischen Kompilation nachweisbar ist, die in vielen Punkten als Werk des Vulgarrechts zu gelten hat. Dieses neue Rechtsprinzip war dazu bestimmt, eine fundamentale Rolle im kontinentalen Rechtssystem zu spielen, das heute undenkbar wäre, wenn nicht der Inhaber des Rechts mit animus, Willen und der Fähigkeit, Rechtsgeschäfte vornehmen zu können, ausgestattet wäre. Aber im Mittelalter, im Zeitalter des Johannes Bassianus, des Azo und des Accursius, war die zentrale Frage von Subjekt-Person alles andere als schon ausdiskutiert. Der Besitz vermischte sich zum Beispiel mit dem Eigentum in der Figur der vestitura, die dem animus kaum eine Bedeutung beimaß, sondern sich eher als eine objektive Verfügbarkeit gestaltete, wirksam durch die tatsächliche Lage und überwacht durch die actio spolii, die unabhängig von dem psychologischen Verhalten des Betroffenen gegenüber seinen eigenen Rechten existierte.
8. Das frühmittelalterliche Vulgarrecht sah im wesentlichen eine Vorherrschaft der Sachen über die Personen vor, die als Ausdruck eines mächtigen mittelalterlichen Naturalismus galt, in dem bisweilen auch gegen den Willen der Rechtssubjekte Erde, Blut und Zeit die Zuschreibung von Rechten und Pflichten bestimmten. (43)
Konzentrieren wir uns auf die Zeit, die im Mittelalter eine bedeutende, allgegenwärtige Kraft darstellte, die mit der Verjährung ein herausragendes Instrument der Zuweisung der firmitas an die Nutznießung von Sachenrechten und den persönlichen Status besaß. Auch dafür sind spätantike Quellen (44) und frühmittelalterliche Belege vorhanden. Im Vulgarrecht der Spätantike setzte sich ebenso wie im Mittelalter allgemein die Tendenz durch, den Mechanismus der Verjährung meist mit einer dreißigjährigen Frist auf alle Bereiche der Nutznießung, seien es körperliche Sachen oder aber Rechte, auszudehnen. Normen, die explizit auf die langobardischen Könige Grimoald und Aistulf zurückgehen, regelten die Anwendung des Instituts der Verjährung für den Fall, daß ein Mann sich über dreißig Jahre im Stand der Leibeigenschaft befand. Im Jahre 668 versuchte Grimoald, die rechtliche Situation der Personen festzulegen, die einem Herren dreißig Jahre gedient hatten. Er bestimmte, daß das Recht, durch Anstrengung eines Verfahrens per pugnam die eigene Freiheit zu erhalten, zu dem vorgenannten Zeitpunkt verjährt sei (45) . Solche Personen mußten daher weiterhin ihrem Herren dienen, wie es sich für einen Leibeigenen geziemte. Auch jene Leibeigenen, die sich faktisch bereits lange der Freiheit erfreut hatten, konnten kein Verfahren per pugnam mehr anstrengen, wenn die dreißigjährige Verjährungsfrist abgelaufen war (46) . Die Berufung auf die Verjährung garantierte letztlich die Verfestigung der persönlichen Abhängigkeiten, ebenso wie die der Sachenrechte. Grimoald fügte tatsächlich ein kurzes Kapitel über den durch Verjährung erfolgten Erwerb von Häusern oder Ländereien hinzu, die seit mehr als dreißig Jahren im Besitz waren. (47)
Dieses Prinzip der Verjährung der persönlichen Freiheit, das die Kompilationen des langobardischen Rechts, an die man in der Rechtsschule von Pavia wieder anknüpfte, aufgenommen hatten, wandte man im 12. und 13. Jahrhundert im Regnum Italiae als geltendes Recht an. Und die Bevölkerung Ober- und Mittelitaliens muß dieses Rechtsprinzip allgemein gespürt haben, auch wenn eine unabhängige Stadt wie Bologna es in ihre Statuten aufnahm und es, wie Roffredus Beneventanus später beobachtete, in pluribus partibus angewandt wurde (48) . Die etwa 1230 in Kraft getretenen bologneser Statuten bestimmten tatsächlich, daß das Verbleiben im Status der Leibeigenschaft für dreißig Jahre ein ausreichender Grund war, um den Status des manens zu erwerben, der sich dann auch auf die Kinder des in die Leibeigenschaft Geratenen vererbte. (49)
Dieser Bereich soll hier nicht weiter vertieft werden. Uns interessiert vielmehr, daß die Position der Legisten gegenüber dem bestehenden Recht außerordentlich ablehnend war. Und diese Ablehnung kann nicht einfach mit einer unkritischen Rezeption des römischen Rechts erklärt werden. Es handelt sich vielmehr um eine gezielte Rechtspolitik, die sich stark auf die Interpretation des justinianischen Textes stützte.
Auch bei der Erklärung der vetustas war die von den Legisten angewandte justinianische Vorlage nicht besonders klar. Dort wurde einerseits die Wirksamkeit der longi temporis praescriptio für die persönliche Freiheit ausgeschlossen (C. 7.22), andererseits existierte eine Regelung über das Kolonat, in der Justinian die Wiedererlangung der Freiheit für jene Bauern ausschloß, die man für eine Zeit longo prolixoque als Kolonen behandelt hatte. Die persönliche Stellung des Kolonen war also der longi temporis praescriptio unterworfen (C. 11.48.20, pr.). Justinian schwankte dabei wie so oft zwischen der abstrakten Formulierung des klassischen römischen Rechts und der praktischen Anwendung von vulgarrechtlichen Regeln, die schon zu seiner Zeit dazu neigten, die Wirksamkeit der Verjährung so weit als möglich zu vergrößern.
Es war nicht die vorgegebene Ehrfurcht gegenüber dem römischen Recht, welche die Legisten dazu trieb, die statuarischen Normen zu kritisieren, die eine Unterordnung ex tempore verlangten: Umgekehrt war es der Widerstand gegen das ungerechte Gewohnheitsrecht, der eine wissenschaftliche Literatur über die römischen Quellen hervorbrachte, die sich vor allem auf die Aspekte des klassischen römischen Rechts konzentrierte und die bestehende Öffnung zur vulgarrechtlichen Praxis beseitigte. In unserem Fall war es Azo, der als erster das bologneser Statut öffentlich kritisierte. Dies geschah in einem kleinen Werk, das aber sehr verbreitet war und einen tiefgreifenden Einfluß auf die Werke vieler anderer zeitgenössischer und späterer Juristen hatte (50) .
Das Problem, das sich dem großen Lehrer in seiner summula de agricolis et censitis stellte, war die Art der Aufnahme der verschiedenen rechtlichen Stellungen der Kolonen, die die Glossatoren im Codex Justinianus vorfanden. In seinen Ausführungen über den Erwerb des Status eines colonus conditionalis bemerkte Azo, daß "einige sagen, daß sich Kolonen nur dadurch konstituieren, daß sie sich ohne Anfechtungen dreißig Jahre lang auf dem Grund eines anderen aufgehalten haben (wie man nach C.11.48.23.1 argumentieren kann). Dieses Gewohnheitsrecht galt in Bologna. Es war auch Vorbild für den Umgang mit Sachen, die der Besitzer als sicher erachten konnte, wenn sie für so lange im Besitz waren, ohne daß dies angefochten wurde. Aber im Gegensatz dazu scheint mir diese Auslegung der Norm wegen des allgemeinen Prinzips gemäß C. 11.48.22.1 nicht richtig zu sein. Die Stelle besagt nämlich, daß Freien nicht aufgrund nur eines Rechtsgeschäfts eine schlechtere Stellung zugewiesen werden kann, sondern daß dafür mehrere juristische Schritte notwendig sind. Und daher ist es notwendig, daß ein schriftliches oder mündliches Versprechen vorausging, mit dem sich die betreffende Person verpflichtete, auf dem Boden dauerhaft als Kolone zu bleiben, und dann tatsächlich für dreißig Jahre dort verblieben ist." (51) .
Alle legistischen Kollegen teilten diese Auffassung Azos, die im Grunde auf demselben Grundgedanken basierte, der auch zu seiner und seines Lehrers Kritik an der Theorie von Moses geführt hatte: Zu Beginn eines bedeutenden Vorgangs, wie der Beschränkung der individuellen Freiheit, durfte nicht eine einfache faktische Situation stehen, sondern mußte immer ein subjektiver Willen ausgedrückt werden. Wie bei der Theorie des kirchlichen Eigentums lehnten die Legisten es ab, eine selbständige ökonomische Ordnung unabhängig vom Verhalten der Rechtssubjekte zu gestalten. Daher wandten sie sich gegen die vulgarrechtlichen Normen, die die firmitas zum Ausgleich der tatsächlichen Machtverhältnisse benützten, ohne daß es auf den Willen des Rechtssubjekts ankam, das zur Unterordnung bestimmt war. Von Azo bis zu Cino da Pistoia gab es deshalb eine ununterbrochene Reihe von Legisten, die ihre strikte Ablehnung einer Anwendung der Verjährungsmechanismen nicht nur auf die persönliche Stellung von Landbewohnern beschränkten, sondern sie auch auf alle Arten periodischer Leistungen ausdehnten, die ohne Vertragsabschluß erbracht wurden. Auch dort nahmen also die Legisten explizit Stellung gegen den "Naturalismus" des Frühmittelalters. Sie förderten ein Privatrecht, in dem das Rechtssubjekt im Mittelpunkt stand, und dessen Rechtsinstitute vom Willen angetrieben und durch den animus charakterisiert wurden, mit dem das Rechtssubjekt seine eigenen Rechte wahrnehmen konnte.
9. Die Polemik der Legisten gegen die übertriebene Ausdehnung des Erwerbs von Rechten durch Verjährung mußte im 14. Jahrhundert geradezu wiederaufgenommen werden, gleichsam als Reaktion auf das entgegengesetzte Verhalten des kanonischen Rechts, welches sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Dogmatik der Figur des Rechtsbesitzes und den daraus resultierenden Folgen, sei es für die prozessuale Geltendmachung oder die Verjährung von Rechten, einen breiten Raum gewährte. Gerade bei der umfassenden und komplizierten Materie des Rechtsbesitzes und den damit zusammenhängenden Problemen vertrat das weiterentwickelte ius commune vom 15. Jahrhundert an eine Theorie, die sehr weit von der rigiden Haltung der Legisten des 13. Jahrhunderts entfernt war.
Lassen Sie uns nun zu den Deutschrechtlern des 19. Jahrhunderts zurückkehren, die behaupteten, der Einfluß der Gewere habe die Juristen des gemeinen Rechts dazu veranlaßt, ein Besitzinstitut zu entwickeln, das sich sehr von dem des klassischen römischen Rechts unterschieden habe. Auch eine bestimmte Richtung des modernen Privatrechts verbindet noch geltende Rechtsinstitute mit dem Phantom des "Urdeutschen" (52) .
In Wirklichkeit findet man in den Quellen keine Spuren eines Zusammenstoßes ethnischer Rechtskulturen. Für andere Dialektiken findet man hingegen reichhaltige Nachweise: Zuerst zeigt sich eine Dialektik zwischen den Instituten, die die gelehrte Rechtswissenschaft vorschlug, und denen des geltenden Vulgarrechts, die schon in der Spätantike bezeugt sind und sich im Mittelalter auf Gebiete mit byzantinischer und germanischer Tradition verteilten. An zweiter Stelle sei der nicht weniger bedeutsame Unterschied zwischen Legisten und Kanonisten erwähnt, wobei sich die Kanonisten bis zu einem gewissen Grad als Interpreten jener vulgarrechtlichen Tradition verstanden, die in den kirchlichen Quellen stark verbreitet war.
Sowohl im Fall des kirchlichen Eigentums als auch im Fall des Rechtsbesitzes wurde die Gestaltung der Institute des entwickelten ius commune durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung zwischen Legistik und Kanonistik bestimmt. Die Idee der juristischen Person, die beide Schulen miteinander teilten, entwickelte sich zum festen Bestandteil des europäischen Rechts, während die Bindung von Rechten an Gebäude, vormals eine bedeutende Struktur des mittelalterlichen Rechts, nun als Kuriosum betrachtet wurde. Hingegen zwang der strikte Widerspruch der Kanonisten gegen den Versuch der Legisten, die Anwendung des Verjährungsprinzips einzudämmen, dazu, die Beschränkung der Anzahl der res als Besitzobjekte und die Einführung eines geschlossenen Systems der Sachenrechte um einige Jahrhunderte zu verschieben.
Es ist nun an der Zeit, diesen Beitrag, der nur einen ersten Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen an allen wichtigen Rechtsinstituten bieten sollte, zu beenden. Der Titel, der mit einer rhetorischen Frage beginnt, spielte mit der Gewißheit, daß heute niemand mehr den Standpunkt vertritt, das mittelalterliche Italien sei ein Land gewesen, in dem das germanische Recht rezipiert worden sei. Im Frühmittelalter galt in Italien wie im übrigen Europa ein Recht, das immer mehr ins Vulgarrechtliche abglitt. Es setzte somit die Linie fort, die seit dem spätantiken römischen Reich vorgegeben war. Die juristische Renaissance, die klassische Texte wiederentdeckte und die Rolle der Wissenschaft erneut hervorhob, brachte eine echte Revolution mit sich, die die Strukturen des geltenden Vulgarrechts in Frage stellte. Ebenso wie bei vielen anderen, besser erkennbaren Revolutionen, waren die Institutionen, die daraus hervorgingen und nun unter dem Namen des klassischen ius commune ihre Wirkung zeigten, nicht gänzlich neu. Sie trugen aber auch nicht das alte Gesicht der früh- und hochmittelalterlichen Institute, die gleichsam mit römischem Recht aufpoliert waren. Die Institute des Spätmittelalters waren zum Teil alt, zum Teil neu, sie waren das Ergebnis einer Reaktion auf verschiedene Bedürfnisse und standen bisweilen im Gegensatz zu den sozialen und institutionellen Kräften; dazu gehörten alte und neue Mächte, herrschende Stände und neu hinzukommende Gruppierungen, alte und neue Ideen.
In den Fällen, die wir hier betrachtet haben, besteht die neue Idee, die sich mit Entschiedenheit der vulgarrechtlichen Tradition entgegenzustellen scheint, in der Zentralität des Individuums, das mit seinem animus und seinem Willen als das einzige Rechtssubjekt der Ordnung vorgesehen ist. Es ist eine Idee, die im ius commune nicht immer Erfolg hatte, die aber einige Jahrhunderte später den Ehrenplatz im Privatrechtssystem der Neuzeit erobern sollte. Auch Deutschland hat sie schrittweise unter dem Etikett des römischen Rechts übernommen.